Himmelblume
»Eines Nachts blickten wir zum Himmel rauf,
als der Mond tot war und die Wolken auch.
›Zwischen den Sternen‹, sagte zu ihr ich,
›blickt Vater hinab auf mich und dich.‹
›Von wo‹, fragte sie in die dunkle Finsternis schauend,
›hütet Mama uns?‹ Die Wahrheit zu viel für Unschuld zu tragen
belog ich mein Schwesterchen, nun erinnernd schaudernd:
›In unseren Herzen weilt sie und hört unserer jeder Klagen.‹
Ein kalter Wind brachte das Laub um uns zum Tanzen;
das Feuer zu Glut gekühlt, doch das Holz knisterte fort;
Ich rückte zu ihr unter Vaters Mantel, unserem letzten Hort;
kein Heim, kein Haus, kein Dach blieb uns zum Verschanzen.
Schlaf fasste mich nicht, während sie tief schlummerte.
Ich wollte und wollte nicht, dass sie träumte von nil;
wenig gab es mir zu geben und doch aufzugeben viel.
Zu zweit alleine; niemand mehr, der sich um uns kümmerte.
Ich küsste sie auf die Stirn wie Mutter es immer tat
und mühte mich zu erinnern an Vaters weisen Rat:
›Wer den Berg erklimmt, wird die ganze Welt ersehen,
doch für Freunde muss er erst ins Tal hinuntergehen.‹
Der Tag brach strahlend auf, die Sonne lachte frohschadend aus,
wir brachen hoffnungsvoll auf zu nehmen nach dem wir uns sehnen:
Ein kalter Schluck vom Bach, besser noch eine warme Suppe für den Bauch;
über uns ein dichtes Dach, bloß eine offene Tür nahmen wir dankend auch.
In Vaters Mantel gehüllt nahm ich sie bei der Hand
und wir gingen gemeinsam jenseits des Waldesrand,
wo sich verbargen köstliche Schätze vom ganzen Land,
man sie von den Wurzeln bis zu den Kronen wiederfand.
Vögel zwitscherten, hüpften und flogen an uns vorbei,
während ich blaue Beeren von den Sträuchern pflückte.
Schwesterchen sang, sprang, sie spielte sorgenfrei,
sie selbst in Not so froh zu sehen mein Herz zerdrückte.
›Ich wünschte, wir hätten auch Flügel, die uns in die Lüfte tragen,
weit weg, hoch hinaus, hoch zu den Sternen‹, hörte ich sie sagen.
Leider haben wir nur Beine, die wir über den Boden schleifen,
nur Arme ohne Federn, die immer wieder nach Waffen greifen.
Nachdem wir uns friedlich satt von den süßen Früchten aßen,
liefen wir vom geborgenen Dickicht zurück auf die gebogenen Straßen.
Das abgebrannte Dorf stand weiterhin leer so wie wir es verließen,
schauten erneut in die übrigen Häuser, damit wir nichts hinterließen.
Die Luft stank nach Tod und Asche, nach Kot von hundert Ratten.
In den Ruinen der Nachbarshütte fand ich eine intakte Puppe;
Schwesterchen war stets neidisch, dass wir nicht eine solche hatten.
Dann plötzlich hörten wir Stimmen, sie kamen von einer Reitertruppe.
›Komm her‹, flüsterte ich ihr zu, ›wir müssen uns schnell verstecken!‹
Sie mühte sich die Beinchen zu heben und hurtig durch den Matsch zu waten.
In die Truhe am Bettesrand kletterten wir hinein, dort der Männer Abzug auszuwarten.
Ich hielt unsere beiden Münder fest verschlossen, ehe wir auch verreckten.
Wir hörten Pferde vor der Hütte schnaufen, lauter als mein Herz pocht‘.
Ein Reiter sprang ab, seine Stiefel patschten im Dreck, jedes Patsch lauter noch.
Die Holzlatten knarrten und schnarrten als er die Hütte betrat, wie Herzklopfen sein Schritt.
Er suchte und fluchte, es hallte und schallte, doch er fand nichts und ging zurück zu seinem Ritt.
Nachdem wir die Hufen nicht mehr klacken hörten, wagte ich mich hinauszuspähen.
Die Luft war so rein wie sie damals sein konnte. Ich half ihr hoch, sie bat Verzeihung,
denn sie benässte sich. ›Du warst tapfer, still geblieben ohne einst hinauszugehen.‹
Wäre ich nur so tapfer, wären wir nicht allein, aber so war nun mal unsere Begleichung.
›Gott gibt und Gott nimmt‹, so begann Vater stets das Tischgebet.
Ich holte mein Antoniuskreuz hervor und betete, Er könnte uns den Weg
weisen. Sie zog meinen Ärmel und zeigte auf das dortige Geschehen:
Soldaten marschierten mit fremden Bannern von ihren Speeren wehen.
Sogleich rief jemand: ›Sie sind hier vorbeigekommen, die Spuren sind frisch!‹
Ein Befehl und die Männer teilten sich auf, auf der Suche nach dem Feind.
Schwesterchen an der Hand zerrte ich sie zurück, doch die Flucht blieb verneint.
Sie brachten uns vor ihren Führer auf dem hohen Ross, sie waren protestantisch.
›Bursch‘‹, sagte er in einem fremden Dialekt, ›hast du die Reiter gesehe‘?‹
Ich schwieg, denn ich verstand die Situation, antwortete mit Kopfschütteln.
Ein Nicken und unser Fänger riss Mutters Kette von meiner Kehle.
Ohne weitere Worte nahmen sie uns mit, höherer Macht zum Büttel.
Sie setzten uns auf ihre Pferde und folgten weiter den Hufen im Schlamm.
Ich wollte weinen, fürchtete um unserer beider Schicksal, fürchtete ihren Gramm.
Was hatten wir Kinder ihnen je getan? Wie hatten denn Mutter, Vater ihnen geschadet?
Könige, die sich stritten, ließen uns den Preis zahlen, doch wurden wir nicht allesamt begnadet?
Fruchtlos war ihre Jagd und so schlugen sie ihr Lager vor Sonnenuntergang.
Schwesterchen und mich ließ man nicht aus den Augen, so setzten wir uns an ein Feuer.
Unter uns zertrampelte Wiese, doch Himmelblumen erstreckten sich entlang des Hangs.
Ein friedlicher Anblick, der mich noch jetzt daran erinnert: Leben selbst ist unbezahlbar teuer.
So wie die Sonne starb färbte sich der Himmel in tiefstem schwarz.
In Vaters Mantel schliefen wir, abseits von ihren hassenden Augen.
Dann riss es mich zurück vom Traum, war es die Patrouille unseres Warts?
Nein, jemand schlich zwischen den Zelten, suchte uns mit dem passenden Glauben.
Es war einer der Reiter vom Dorf. Sie suchten nach Überlebenden und Flüchtlingen.
Er nahm Schwesterchen auf die Schulter und leise eilten wir los, bevor sie uns fingen.
Finster war die Nacht und ich sah nicht, wohin ich trat, und so kam es, dass ich stolperte
und fiel. Wäre er bloß weiter, hätte sich nicht umgekehrt, so ein Leben für ein anderes opferte.
Vorsichtig wichen wir dem Licht der Fackeln aus, uns hüllte ein Nebelschleier.
Der Weg nicht mehr zu erkennen, links und rechts schien gleich, doch korrekt
wüsste man erst am Ende des Pfades seine Entscheidung. Unser Befreier
stieß auf einen Feind, eine Muskete zündete, mein Gesicht nasswarm befleckt.
Er ließ ihren starren Körper zu Boden fallen und stürzte sich auf ihren Mörder.
Als hätte die Kugel nicht ihr, sondern mein Herz durchbohrt, stand ich erfroren
vor ihrem blutenden Leibchen, ein letzter Hauch: ›Mama weint!‹ waren ihre letzten Wörter.
Die Beine eines Feiglings tragen mich ein letztes Mal, hatte ich mir damals geschworen.
Dreißig Jahre habe ich gekämpft, geblutet, in zwanzig davon getötet.
Ein Leben dem Krieg gewidmet, geopfert; meine Hände für Wen gerötet?
Nur um wieder zurück zu dir zu kehren, zurück zum Hang der Himmelblumen.«
Sein Schuss endete seine Geschichte, so starb er neben dem Kreuz graviert in ihren Runen.