Gesprächspartner gesucht
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Es war riesiger als ich es mir vorgestellt habe. Zehn Minuten bin ich vom Eingangstor gelaufen bis ich die Eingangstür des Hauses erreicht habe. Lukas, der Oberbutler, hat mich dort empfangen. Er ist—was wir Pensionäre noch einen jungen Mann nennen: Er ist in seinen 40igern, aber sein glatt gekämmtes schwarzes Haar ist noch nicht ergraut. „Kommen Sie mit mir, Professor Weinwort“, waren seine ersten Worte nach einem formellen „Guten Tag“. Lukas geleitete mich schnurstracks durch die Eingangshalle. An den Wänden hingen allerlei Gemälde, bevorzugt Abstrakte. Was hätte ich nicht gegeben eine Tour mit einem meiner früheren Semesterlehrgänge hier entlang zu machen. Originale schmückten die weißen Wände dieses Hauses, die in der Summe wohl selbst den Preis des Hauses um das doppele übersteigen würden. Und mit Haus meine ich eine enorme Villa. Lukas informierte mich unterwegs, dass Herr Euler mich bereits sehnlichst erwartete. Die Eingangshalle führte geradewegs zum Hintereingang zum Garten. Es ein Eden zu bezeichnen würde dem Gesehenen nicht gerecht werden. Ein Weg trennte das Blumenmeer hinauf zu einem Pavillon. Und dort saß er und blickte auf etwas. Wir stiegen die Stufen hinauf und ich erkannte nun auf was Herr Euler blickte: Ein Teich nach dem anderen, verziert mit Wasserspeienden Fontänen im Zentrum, lagen verstreut vor uns. Verschiedenste Vögel trabten an den Ufern; Enten und Schwäne glitten graziös über das Wasser. Aus dem Wasser selbst schimmerten bunte Schuppen heraus. Große Fische und kleine Fische, jeder Teich beherbergte wohl sein eigenes Komplex. „Professor Anthon Weinwort ist hier“, sagte Lukas mit einer Verbeugung. Victor Euler regte sich nicht und beobachtete weiter die Tiere in seinem Zoo. Lukas drehte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Vergessen Sie die Regeln nicht.“ Darauf zog er einen Stuhl und positionierte ihn neben seinen Herrn. Er wies mich zu setzen und verließ den Pavillon, sobald ich es tat.
„Guten Tag, Herr Euler“, begann ich das Gespräch.
„Guten Tag, Professor“, antwortete er mir. Im selben Moment begann er mit seinen Fingern zu klimpern als würde er Klavier spielen.
„Ein wahrlich wunderschöner Garten, den Sie hier haben“, fuhr ich fort. Victor Euler vollführte weiter ein Walzer auf seinem Gedankenpiano—wie es dem Rhythmus seiner linken Hand zu entnehmen war. „Die Teiche sind aufgeteilt in verschiedene Regionen, richtig? Ich sehe im Teig hier vorne nur Arten üblich im Norden Amerikas, während dieser (ich zeigte auf den Teich hinten links, dessen Fontäne sieben versteinerte Nixen beheimatete, aus dessen Wasserkrügen das Wasser herausströmte) nur Arten aus Südost-Europa; Griechenland und Türkei, nach dem Schimmer zu urteilen.“
Victor pausierte sein Spielen und öffnete das Notizbuch, das vor ihm auf dem Tisch stand. Mit einem Blick erkannte ich, dass er dort seine Kompositionen hineinschrieb. Er legte seine linke Hand auf den Tisch, die weiterhin im ¾ Takt spielte, und mit seiner rechten nahm er den spitzen Bleistift und begann zu notieren. „Der Teich mit Apollo und Demeter ist die Heimat japanischer Gattungen“, informierte mich Victor, während der Bleistift in seiner Hand über den Block schnitt. Zisch-Zisch-Zisch erklang es, als er die Notenbalken eintrug. „Leider lassen sich die Vögel nicht so gut kontrollieren. Sie fliegen umher und landen wo sie wollen.“ Zisch-Zisch-Zisch, Als er einen weiteren Takt notierte, seine linke Hand spielte mittlerweile nicht mehr im ¾ Rhythmus; es war schwer auszumachen, aber ich glaube es war eine 3/8 oder 9/8 Bewegung.
„Was machen Sie mit den Zugvögeln?“ fragte ich, da der Großteil des Gartens, indem wir uns befanden, umnetzt war. Die Zische, die vom Bleistift kamen, häuften sich nun.
„Sobald der Herbst einbricht, wird das Netz abgenommen. Viele Vögel werden jedoch ins Tropenhaus umgesiedelt“, sagte er und zeigte mit seinem linken Hand nach Südwesten, hinter die Nixenfontäne; seine Finger bewegten sich dennoch flüssig in einer virtuosen Bewegung.
„Bleibt das Tropenhaus für den Sommer leer?“ fragte ich und blickte auf das Gebäude mit der Glaskuppel als Dach.
„Es ist durchgehend an; für die Schildkröten und Echsen.“ Zisch-Zisch-Zisch schnitt der Stift wieder durch das Papier.
„Sie sind wohl ein großer Tierfreund, Herr Euler. Haben Sie auch Pferde hier?“
„Ich, nein. Aber Victoria liebt sie. Ihr Stall liegt weiter vorne, am Waldeingang zum Bach. Sie kommt jedoch nur noch selten her. Und reiten tut sie seit 17 Jahren nicht mehr. Evelyn kümmert sich jetzt um sie, die Pferde. Sie kommt ganz nach ihrer Mutter, wenn sie lächelt; werden Sie sehen, Professor.“
„Bitte, (zisch-zisch-zisch) nennen Sie mich Anthon, oder kurz, Tom.“
„Gut, Anthon. Dann nennen Sie (zisch-zisch-zisch) mich Victor. Ich hab kein kurz. Was essen Sie gerne, Anthon?“ Victor blätterte nun das dritte Mal, seit das Gespräch begonnen hat.
„Meine kulinarischen Vorlieben sind eher exotisch. Meine Frau ist aus Peru; einer der Gründe für sie war, dass sie ihre Gerichte vorzüglich kochen kann.“
„Sagen Sie Lukas, er soll arrangieren, dass ihre Frau einmal für uns kocht, Anthon.“
Der Stift schnitt weiterhin über das Blatt. „Ich werde ihn darauf ansprechen. Welche Speisen gefallen ihnen, Victor?“
Er antwortete ohne seine Augen vom Notenbuch zu nehmen: „Es kommt darauf an, welchen Tag wir haben. An einem Freitag essen wir traditionell Fisch. Ich hoffe, sie haben nichts dagegen.“
„Nicht im Geringsten, solange ich sie nicht aus dem Teich angeln muss.“
„Aber natürlich nicht! Lukas lässt den Fisch bringen.“ Victor ließ sich nicht lesen: Hatte er meinen Witz fortgeführt oder gar nicht erst als solchen wahrgenommen? Der Stift zischte weiter über das Blatt und ruhte nur im kurzen Moment, wenn Victor blätterte.
Wir unterhielten uns weitere zehn Minuten über die Speisen an den verschiedenen Wochentagen, bis er mich mitten im Satz über die Beschreibung eines köstlichen Kartoffelgerichts unterbrach und sagte, dass es für heute reichte. Er klappte sein Notizbuch zu und prompt kam Lukas, der seinen Herrn auf die Beine half. Victor blickte auf das Blumenmeer vor dem Haus, das vom Weg zweigeteilt war. Ich konnte nun das erste Mal einen Blick auf seine Augen erhaschen: Sie waren vom dunkelsten Braun getränkt wie das Holz einer alten Violine. Ich drehte meinem Kopf wieder zu den Teichen. „Morgen zur selben Zeit“, sagte Victor und lief auf dem Gehstock stützend ins Haus. Die erste Regel dieses Jobs: Kein Augenkontakt.
Das Gästehaus wurde für mich hergerichtet. Es beinhaltete drei Schlafzimmer, ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und zwei Badezimmer. Ich wurde von Lukas informiert, dass Victor hier nie einen Fuß hineinsetzt und ich meine Ruhe finden würde. Dies war wohl einer der Gründe, weshalb ich diesen Job annahm, diesen äußerst ungewöhnlichen Job.
Nachdem meine Kinder mich in das Quizspiel „Wer wird Millionär“ eingetragen hatten und ich ohne nur einen Joker zu nutzen gewonnen hatte, wurde mir ein Brief vom Unternehmen Euler geschickt. Sie boten mir eine besondere Stelle an. Sie bezahlen sehr großzügig, aber des Geldes wegen nahm ich es als neugefundener Millionär nicht an. Sie wollten mein Wissen, er wollte mein Wissen. In einer Gesellschaft, die fokussiert ist Spezialisten auszubilden, ist ein Mann mit großem Allgemeinwissen eine Rarität. Doch wie bei jedem gewöhnlichem Job, gab es auch bei diesem ein Bewerbungsgespräch. Es fühlte sich an wie eine zweite Runde des Millionenspiels, diesmal wäre ich sogar für Joker froh gewesen, oder irgendwelche Antwortmöglichkeiten. Ich muss sie dennoch zufriedengestellt haben, denn der zweite Teil des Gesprächs wurde—laut Lukas—nur von mir besucht. Alles, was ich tun musste, war reden. Das Thema wurde vorgegeben, die Renaissance, doch ich konnte plaudern über was ich lustig war. Als Professor der Kunst redete ich natürlich über die großen Vier und ihre Werke. Ich sollte zwei Regeln dabei befolgen: Kein Augenkontakt; und nicht aufhören zu reden, selbst wenn mein Gegenüber scheinbar desinteressiert wirkte. Nach dem ersten Gespräch heute muss ich gestehen, dass das Bewerbungsgespräch deutlich schwieriger war als die Unterhaltung mit Victor Euler, da er zuhörte und antwortete und nicht in seiner Nase bohrte und komische Geräusche von sich gab. Nicht, das ich solches Verhalten aus meinen früheren Vorlesungen nicht bereits kennengelernt hatte. Ich verstehe auch nun, weshalb es diesen Job gibt: Victor Euler komponiert beim Reden.
Lukas kam abends vorbei und informierte mich über den Essdienst: Ich könnte niederschreiben. Welche Nahrungsmittel ich haben möchte und sie werden nach dem nächsten Einkauf im Kühlschrank des Gästehauses einsortiert. Außerdem bevorzugt es Herr Euler alleine zu essen und bittet um Verzeihung, dass er mich nicht eingeladen hat. Mir war es Recht. Nach der zweiwöchigen Probefrist würde meine liebe Maria zu mir nachziehen. Die Kulissen des Hauses werden sie sicherlich auf hunderte Gemälde inspirieren. Meine Finger werden lahm. Ich sollte nun meine Nachtlektüre lesen.
2
Es war ein bewölkter Samstag. Selbst den Vögeln schien die Sonne zu fehlen. Victor und ich saßen wieder im Pavillon und blickten auf die dunklen Teiche. Das Notenbuch war bereits aufgeschlagen und er bereit zu schreiben, bevor ich auch nur ein „Guten Tag“ von mir gab. Als ich es dann sagte, begannen seine Finger wieder Luftklavier zu spielen, sogar die Rechte mit dem Stift. Ich begann mit dem ersten Thema, das mir durch den Kopf ging. „Sie haben eine meisterhafte Sammlung im Haus hängen, Victor. Sie bevorzugen abstrakte Kunst?“
Der Stift fletschte über das Papier und er antwortete mir, dass es beruhigend wäre; er sah genug von der Welt, wie sie war, unverändert und gleich. Einen quadratischen Ball zu sehen lässt ihn denken, dass andere Weisen als die uns bekannten denkbar sind. „Nicht mit unserem jetzigen Verständnis der physikalischen Gesetze“, antwortete er mir ohne den Blick von seinen Notierungen zu nehmen, „aber möglicherweise in einer Welt mit anderen physikalischen Normen, wo beispielsweise ein Quadrat beziehungsweise eine Box schneller den Hang herunterrutscht als ein Ball herunterrollt.“
„Oder hoch.“
„Oder hoch.“ Ich glaubte ihn für einen Augenblick schmunzeln zu sehen. „Sie sind ein Kunstprofessor, sagte mir Lukas. Bevorzugen Sie einen bestimmten Künstler.“ Zisch-zisch-zisch
„Maria Weinwort.“
„Ihre Frau?“ Zisch-zisch-zisch
„Sie würde wochenlang schimpfen, wenn sie erfahren würde, ich hätte sie nicht einmal unter meinen Top Drei erwähnt.“
„Und Platz Zwei und Drei?“ Victors Miene blieb ungerührt.
„Van Goch und (XXX insert Artist)
„Warum die Beiden?“ fragte er und stoppte mit seiner linken Hand zu spielen. Die Noten verrieten, dass sie eine Pause hatten.
„Es ist ziemlich simpel: Sie wurden beide zu ihrer Zeit unter- oder gar nicht geschätzt, während sie nun von jedem hervorstechen und sogar Kinder ihre Namen kennen.“
„Haben alle Ihrer Top Drei (zisch-zisch-zisch) dies gemeinsam?“
„Meine frau und ihre Werke werden von uns hoch geschätzt. Sie verkaufen sich nicht wie ein Van Goch, doch ist es mehr als diese zu ihren Lebenszeiten erhielten. Haben Sie sich selbst mit anderen Künsten als der Musik beschäftigt?“
„Nein“, sagte Victor ohne die leiseste Bewegung seines Kopfes. „Ich wurde nur mit einem umfangreichen Verständnis über die Kunst der Ohren gesegnet, wenig mit dem der Augen. anders als Sie.“
„Minus dem Ruhm und Erfolg, der Ihnen folgte. Sind Sie noch—“
Plonk
Victor legte den Stift beiseite, nachdem er das Buch zusammenklopfte. Lukas kam hochgeeilt und sie gingen in das Haus ohne ein Wort zu wechseln. Ich blieb noch etwas sitzen und schaute wie sich die Schwäne putzten.
Am Abend erhielt ich von Lukas eine Tour durch das Haus. Es dauerte beinahe drei Stunden mit längeren Verschnaufpausen zwischen den Etage Wechsel für mich alten Mann, bis die wichtigsten Räume beziehungsweise Türen—denn in die meisten gingen wir nicht hinein—besichtigt waren. Unter den Räumen, die wahrlich erinnerungswürdig waren, waren die Bibliothek (wo sich Herr Euler den größten Teil an regnerischen Tagen befand), das Observatorium, die Musikzimmer (eines war für ein Orchester ausgelegt, zwei waren für die Behausung zahlreicher Instrumente, ein Klavierzimmer, ein Studio und eine „kleine“ Lounge, die alle Zimmer verband), und das Schwimmbad mit der „Kugel“. Die „Kugel“ war ein Schwimmbecken angelegt an das große Hallenbad, das ein sphärisches Aquarium um sich hat. Einmal in der „Kugel“ schwimmt man wahrlich zwischen den Fischen; oben, unten, an den Seiten. Man ist Zuschauer und gleichzeitig Beschauter. Lukas erzählte mir, dass es bereits die vierte Generation der Glassphäre ist, die letzte musste wegen Materialschwächung vor sechs Jahren erneuert werden; davor hielten sie ihre gewohnte Lebensdauer von 15 Jahren. Es ist nicht verwunderlich, weshalb Victor so Fischaffin ist, wenn man sein Leben lang solche Wunder der Technik hat, um jenen so nah zu sein. ich werde dem Observatorium einen weiteren Besuch gestatten, wenn der Mond seine ganze Pracht offenbart. In den Musikzimmern gibt es zurzeit nichts aktives, lediglich einer der Hausangestellten nutzt es, um das Notenbuch mit Victors handgeschriebenen Notationen zu digitalisieren. Früher—zu Victors Karrierehöhepunkt—war ein ganzes Orchester für Aufnahmen bei ihm untergebracht. Es ist jedoch über fünf Jahre her, dass er eine Komposition für ein Instrument anders als das Klavier geschrieben hat, geschweige denn für ein ganzes Orchester. Er selber spielt auch seit ein paar Jahren nicht mehr, seit seine Finger mit Arthrose geplagt sind. Einige vergleichen diesen Schicksalsschlag—wenn man es als solches überhaupt bezeichnen kann—mit dem Ertauben von Beethoven. Es ist amüsant zusehen, dass er ebenfalls als „Der Mozart unserer Zeit“ oder als „Schüler des Liszt“ genannt wird, aber nie mit Bach verglichen, obwohl er ihm allein wegen seiner kolossalen Sammlung am nächsten liegt. Meine Hand wird wieder lahm. Es gibt wohl doch etwas, was ich mit diesem Genie teile.
3
Dieser Sonntag machte seinem Namen keine Ehre: Es regnete fast durchgehend und die Sonne erlag den grauen Wolken. Nichtsdestotrotz war das Gespräch mit Victor zur üblichen Zeit um 14 Uhr. Ich fragte ihn über seine Krankheit und wie es seine Karriere als Musiker hemmte. Wie gewohnt spielte, komponierte und notierte Victor, während er mir antwortete: „Es schmerzt nicht allzu sehr, nicht mehr selber spielen zu können. Dieser Verlust stört mich nicht beim Musizieren, wenn Sie verstehen—oder hier sehen. Sie haben selbst Schwierigkeiten mit Ihren Händen?“ Zisch-zisch
„In der Tat. Es ist ein furchtbares Gefühl: Meine Hände und mein Verstand waren meine besten Eigenschaften. Es ist, als würde ich einen Teil von mir verlieren…“
„Langsam verlieren, so wie sich das Alter anschleicht und einen plötzlich überrascht, ehe man seine Jugend genießen konnte. bereuen Sie etwas aus oder in Ihrem Leben?“ Zisch-zisch
„Weniger Reue als ein Verlangen zu erfahren wie mein Leben aussehen würde, wenn ich Vater geworden wäre. Bei Ihnen, Victor?“ zisch
Er klappte das Buch zusammen und wurde von Lukas weggeführt. Es war Victor wohl eine zu persönlich, zu unangenehme Frage. Ob er seine Antwort kannte oder die Wahrheit dieser fürchtete, wusste niemand. Eine Bedienstete erzählte mir beim Abendbrot, dass sich Herr Euler seit dem Verlust seiner Eltern vor fast zehn Jahren deutlich verändert hat. Der Verlust seiner Ehefrau an den Krebs hat den späten Herrn Euler in den Ruin und letztendlichen Tod geführt. Ein halbes Jahr nach dem Tod von Frau Euler erlitt er einen Herzinfarkt, der ihn in ein Koma zwang. Gregor Euler sah dies kommen und der Familienanwalt überreichte den Euler-Kindern den letzten Willen ihres Vaters, der ausdrücklich nicht an lebenserhaltende Geräte angeschlossen sein wollte. Victoria Euler erbte das Euler-Unternehmen, Victor hinter blieb das Haus. Seither hingen keine Fotos der verstorbenen Eulers mehr im Haus. Die einzigen wenigen Fotos waren noch im Schlafzimmer von Gregor und Nathalie Euler.
Victoria kam jedes Weihnachte zurück mit ihrer Familie. Außerdem telefonierten sie jeden Sonntag um Punkt 19 Uhr miteinander, wobei sie sogar auf Zeitunterschiede achtete, wenn sie verreist war. Victor ist gleich einzigartig wie eigenartig. Seine Schwester wird es nicht leicht mit ihm gehabt haben. Ob Victor auch bei ihren Telefonaten komponiert? Er scheint es nicht zu tun, wenn er Lukas ordert. Dann wiederum habe ich Victor noch nie außerhalb unserer kurzen Unterhaltung sich mit anderen unterhalten gesehen. In der Bibliothek saßen er und Lukas leise auf ihren Sessel und lasen. Ich verbrachte den restlichen Tag auf derselben Weise: Ich lieh eine uralte Ausgabe der „Divina Comedia“ und suchte nach meinen liebsten Versen.
4
Heute habe ich das wahre Genie, das Victor Euler ist, beobachten können. Um 14 Uhr des sonnigen Montags saßen wir wieder im Pavillon vor den Teichen. Da unser Gespräch gestern ein unschönes, abruptes Ende nahm, vermied ich—und hielt es ratsam—persönliche Fragen zu stellen. In der Tat weiß ich nicht einmal, ob Victor sich wohl fühlte oder nicht. unser Gespräch begann ich damit, ihn über die Ausgabe der Göttlichen Komödie zu fragen, die ich aus seiner Bibliothek auslieh. Er nahm den Bleistifthalter und es flog über das Papier. Wie wir tiefer in die Materie Dantes hinabstiegen, so füllten sich die Seiten. Wisch-wisch-wisch glitt die Mine über die Notenlinien. Nachdem wir gefühlt eine Stunde unsere Eindrücke und Interpretationen der italienischen Verse (ja, Victor konnte fließen italienisch sprechen, was mich besonders wunderte, da nirgend etwas über seine Sprachkenntnisse erzählt wird), unterhielten wir uns über Gemälde, die Szenen aus Dantes Tragödie darstellten. Er kannte absolut jeden Künstler, den ich als erwähnungswürdig hielt, ihre anderen Werke und erzählte, das Victoria, sein Schwester, einige bei sich im „furchtbaren“ Gästezimmer hängen hatte; dies war wohl für die ungebetenen Gäste vorgesehen. Die Stunden verstrichen wie wir von Künstlern auf Mesoamerikanische Sprachen wechselten, dann uns über das Sternensystem der Chinesen unterhielten bis schließlich die letzte Seite im Notenbuch ausgefüllt war und er es mit einem plötzlichen Plop zuklappte. Er zeigte auf das Buch und Lukas verstand sofort, was sein Meister wollte. er hob den Zeigefinger hoch und gestikulierte mir, wohl meinen Gedankengang festzuhalten bis Lukas wiederkam.
Nach einigen Minuten des Schweigens, das durch das Plätschern des Wassers gestört wurde, kam Lukas mit einem neuen Notenbuch und zwei weiteren Bleistiften. In unserer Unterhaltung war es mir gar nicht aufgefallen, dass Victor die Mine eines Bleistifts gänzlich aufgebraucht hatte und einen zweiten nutzte. Er öffnete die erste Seite des Buchs und rollte seine Hand wie ein Dirigent: Ich durfte weiter reden. Noch einige Zeit verging bis ich auf eine Gedankenpause stieß und einige Minuten dem Gesang der Vögel lauschte. Plop schloss das Buch, doch diesmal ging Victor mit Lukas zurück ins Haus. Ich verblieb und beobachtete die Tiere. Es war erstaunlich: Victor hat durchgehend Notationen angefertigt, solange wir redeten.
Als ich in mein Gästehaus zurück ging war es bereits 19 Uhr. Ich hatte die Vermutung, dass Victor keine Arthrose in den Fingern oder Händen hatte—denn mir ist jetzt schon die Hand zittrig vor Schmerz. Etwas anderes hielt ihn davon ab Klavier zu spielen. Vielleicht war es ihm nach über 50 Jahren einfach zu langweilig geworden ohne ein Orchester, das einen begleitet.
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Der persönliche Arzt der Euler-Familie kam jeden zweiten Dienstag und schaute nach Victor. „Er ist ein guter Arzt, vielleicht der Beste, doch auch er vermag keine Wunder zu vollbringen“, sagte mir Hilda, die für mein Gästehaus zuständig ist, nachdem ich wegen Victors Arthrose nachfragte. Sie erzählte mir auch, dass alle Angestellten sich von Dr. Eisenwald untersuchen lassen konnten, solange er dort war. „Man hat sonst keine Gelegenheit, von einem solchen Arzt persönlich behandelt zu werden. Und das noch ohne Termin“, fügte sie bei. Auch ich ließ es mir nicht entgehen und erlaubte Dr. Eisenwald meine Hände zu begutachten. Er erzählte mir nichts über die Krankheit, was ich nicht bereits gewusst hätte. Ich fragte ihn nach Medikamenten, die mir beim Zeichnen helfen könnten über längere Perioden—„wie zum Beispiel an regnerischen Tagen“. Es gäbe wohl noch kein „Wundermittel“, sagte er mir.
Um 14 Uhr führten wir, Victor und ich, unsere Unterhaltung fort. Ich hatte die letzte Nacht einen Gesprächsverlauf ausgeplant, um ihm ein möglichst langes, pausenfreies Gespräch zu ermöglichen. Es schien, dass auch er vorbereitet war. Ganze drei Notenbücher, eines noch das angefangene von gestern, und etliche Bleistifte lagen auf dem Tisch vor ihm. Ich vermag nicht mehr das ganze Gespräch wiederzugeben, aber als ich bereits Krämpfe im Kiefer verspürte, musste ich es doch abbrechen. Nach Victors enttäuschtem Seufzer zu urteilen, hätte er am liebsten weitergeredet—oder vielmehr geschrieben. Ich nahm das Abendbrot verspätet um halb zehn, nachdem ich mich für ein kleines Nickerchen hinlegte. Hätte ich ihn nur in meiner Jugend kennengelernt, welche Stücke hätte er wohl geschrieben? Ich war mir ebenfalls sicher, dass er keine Arthrose hatte, nicht nach diesen intensiven Schreibstunden.
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Die Probezeit nachte sich dem Ende. Ich wurde von Victor auf ein Mittagessen mit ihm eingeladen. Seit meiner Anreise vor zwölf Tagen habe ich ihn nie Essen gesehen. Zumindest trocknete dem Genie der Mund nach stundenlangem Reden. Lukas informierte mich über die Gewohnheiten Victors: Anders als sonst sollte ich beim Essen kein einziges Wort verlieren; kein „Bon Appetit“, kein „Danke, auch kein „Hallo“. Ich sollte mich links neben ihn setzen, sodass Augenkontakt nur bei Kopfdrehung möglich wäre.
Heute ist Vollmond und ich schreibe vom Observatorium aus. Hilde gab mir einige Koordinaten, an die ich das Teleskop justierte und sah die Venus in ihrer ganzen Pracht, geschmückt mit Milliarden Sternen.
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Ich habe mich heute ertappt wie ich den Pinsel für den Füller tauschte. Ich schrieb nicht für mein Tagebuch, sondern legte einen Gesprächsplan nieder für Victor und mich. Ich fasste in einer Liste die bereits besprochenen Themen und datierte sie. Es war das erste Mal, das mir bewusst wurde, dass dies ein Job war, es war Arbeit, die eine gewisse Vorbereitung benötigte. Die größte Vorbereitung waren meine 73 Jahre Lebenserfahrung. Nun müsste ich ein kleines Stück Planung beisteuern. Ich tat dies weniger als Überzeugung Victor beim Komponieren zu helfen, sondern vielmehr als Ventil, mein gesammeltes Wissen, die Kulmination meiner selbst auf ihn zu projizieren. Ich bin ein Mensch, der seine Ideen und Gedanken laut kundgeben muss. Dies war, warum ich immer Professor sein wollte. nun habe ich nur einen Studenten, und von ihm weiß ich, dass er ein Genie ist.
Das Mittagessen mit Victor verlief wortlos wie angekündigt. Lukas saß rechts neben Victor und speiste mit uns. Es war möglich, dass Victor keine Arthrose in den Händen hatte, aber sein Rücken, seine Beine waren nicht verschont vom Alter. Aufstehen vermochte er nicht ohne Lukas Hilfe, dabei war er sogar sechs Jahre jünger als ich. War es das ständige Sitzen am Klavier, das ihn so altern ließ; spielte er deshalb nicht mehr?
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Lukas teilte mir mit, dass ich die Probezeit mit Bravur abgeschlossen hatte und fragte mich über meine Meinung über den Job. Ich würde die Arbeit gerne fortsetzen und sagte, dass ich bereits Pläne für die Gespräche verfasse. „Seien Sie etwas rücksichtsvoll mit Herrn Euler, Professor Weinwort. Er ist nicht mehr der Jüngste und lange wird er nicht mithalten können, die ganzen Seiten der Bücher zu füllen. Das vermochte er problemlos mit 2ß, ach sogar mit 40 tun, aber jetzt…mit seinen Händen…“
„Er hat keine Arthrose“, entgegnete ich.
„Nein“, sagte Lukas nach einer kurzen Pause, „hat er nicht. Dennoch ändert es nichts an seiner fehlenden Jugendkraft. Und den Schmerzen in seinen Händen.“ Er beließ es dabei und fragte nach, wann María, meine Frau, kommen wird. Wäre es nicht für sie, hätte ich diese Stelle nie angenommen. Es war die letzten Wochen äußerst seltsam ohne sie, schon fast einsam. Seit unserem Ruhestand waren wir nur selten getrennt—und dann nicht länger als paar Tage. Ich habe an den späten Herrn Euler denken müssen: Würde mein Herz wirklich zerbrechen, wenn die Zeit kommen sollte? Ich werde keine leiblichen Nachfahren hinterlassen, doch María weiß, dass ich ihre Kinder sowie die meine ansehe. Ich werde Isabella und Rea alles vermachten, nachdem meine Zeit gekommen ist. Diese verdammte Hand. Warum verlässt mich meine Kraft, wenn ich nun so viel schreiben möchte? Es wird Victor nicht anders ergehen, auch wenn für andere Gründe.
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María wird morgen anreisen. Victor wünschte, dass sie doch mit auf eine Unterhaltung kommen sollte. Lukas bat zusätzlich um Verständnis, dass sie ebenfalls die Regeln beachten sollte. „Es wäre vielleicht weiser, wenn sie neben mir Platznehmen würde und von außen mitbeobachtet. Fürs erste“, sagte Lukas, dem ich nichts entgegen hatte. Ich wüsste auch nicht wie Victor reagieren würde, mehr als zwei Stimmen zu vernehmen. War jede Stimme für ihn ein Instrument? Schrieb er keine orchestralen Stücke mehr, weil er sich auf nur einen Gesprächspartner limitierte? Ich vermute es. Mich dünkt, dass seine eigene Stimme für ihn keinen Anreiz zum Komponieren auslöst. Wie konnte er so sonst denken? Ich hatte eine Idee und holte ein Drama aus der Bibliothek. Ich eignete mir Romeo & Julia an, da es nicht wichtig war für den Erfolg meiner Theorie, welches Stück ich las. Und ich war mir sicher, dass er die wichtigen Passagen kannte. Ich las mir einige Seiten durch und stellte fest, dass ich für die verschiedenen Charaktere andere Tonierungen benutzte, jedoch keine andere Stimme außer meiner eigenen wahrnahm. Meine Theorie platzte indem Moment: Wenn Victor genauso liest, sollte er keine Musik „mithören“. Denn diese Theorie blieb bestehen: Das Reden ist für ihn gleichgesetzt mit Musik.
Ich war bei einem Besuch zur „Kugel“ an dem Musikzimmer vorbeigegangen und traf auf Stephan, der die Notenbücher für Victor digitalisiert. Er sagte mir, dass er seit langem nicht so viel transkribieren musste wie seit meiner Ankunft. Ich hatte nie einen guten Blick auf die Notationen werfen können und fragte Stephan, ob ich kurz über das Notenbuch in seiner Hand schauen könnte. Die Sechszehntelbalken hatten stets denselben Abstand und nirgend war eine Korrektur erkennbar. „Die Notizen und Akzente trägt Herr Euler wohl immer später ein“, dachte ich laut.
„Nein“, verneinte Stephan, „das ist genauso abgegeben wie er es mit Ihnen notiert hatte. Ich übernehme lediglich alles auf dem Computer.“
„Es ist doch nicht möglich, dass er keine Korrekturen unternimmt? Selbst ein Genie wie er wird ab und an Fehler machen.“
Stephan nickte: „Das tut er auch. Er kommt manchmal zum Archiv und nimmt alte Notenbücher und schreib sie neu, aber er behält das Original bei. Die neuen Notenbücher soll ich glücklicherweise nicht digitalisieren. Ich käme sonst nicht zu meiner eigentlichen Arbeit.“
„Und werden die Neuen nicht veröffentlicht?“
Stephan schüttelte den Kopf.
Ich ging ins Archiv und blätterte durch die Notenbücher. Hunderte, tausende stapelten sich. Einige Dateneinträge waren über 30 Jahre alt. Stephan sagte mir, dass die aller ersten aus Victors Jugend in seinem Büro sind; es wären einige weitere hundert Bücher. Es schien mir beim Durchstöbern der Kollektion als hätte Victor eben so viel notiert wie musiziert. Auf keiner einzigen Seite fand ich irgendeine Form der Korrektur, irgendein verspäteter Eintrag. Es war wie Stephan sagte: Er notierte sie sich neu und fügte dort sofort Veränderungen ein.
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Meine wundervolle María kam gestern. Ich hatte keine Zeit einen Eintrag in meinem Tagebuch zu verfassen, da wir uns ausgiebig über Herrn Euler unterhielten.
María kam am Vormittag und wurde prompt eingeladen beim Gespräch beizuwohnen. Ich hatte Victor noch nicht so schreiben gesehen sein Stift glitt wie die Kufen eines Eiskunstläufers und hinterließ Spuren der Meisterleistung im Eis. In dem Moment, in dem María sich vorstelle, fügte Victor ein weiteres Instrument im Notenbuch auf. Meine Theorie war also korrekt. An einigen Momenten bat er mit hochgestrecktem Zeigefinger um eine Sprechpause, damit seine Finger zu seinen Gedanken aufholen konnten. Nach 20 Minuten war es aber schon vorbei. Er konnte nicht mehr, seine Hände schafften es nicht mehr; ich habe ihn die letzten Tage wohl immer ans Limit gebracht.
Aber wir führten ein weiteres Gespräch am selben Abend noch. Wie Victor es wünschte, war das Essen peruanisch. Er aß einen halben Teller, bevor Lukas ihm was anderes brachte: Omelett und ein Notenbuch. Schnell happte er das Omelett und tausche sein Besteck mit einem Stift. Er unterhielt sich ausschließlich mit Maria und ich schwieg, sodass Victor kein zweites „Instrument“ wahrnahm.
Ich erinnere mich überhaupt nicht an das, was sie beredet hatten. Ich war in Gedanken verloren von ihrem Anblick und dem hypnotischen Zisch und Wisch der Bleistiftmine über dem Papier.
Am folgenden Tag, also heute, blieb ich um 14 Uhr alleine mit Victor und Lukas. „Glück haben, Glück zu haben“, eröffnete untypischerweise Victor das Gespräch. Ich stimmte ihm zu, bevor er fortfuhr: „Ich fürchte, ich habe meins auf dem Weg verloren.“ Victor legte den Stift ab und ich wusste, dass ich nur zuhören sollte. „Sie waren mir eine großartige Hilfe bisher, Anthon. Ich weihe Sie nun ein, worin Sie mir halfen. Die Leute um mich haben es nicht leicht mit mir, wie Sie wohl selbst festgestellt haben. Dennoch fällt es einigen leichter als anderen. Dafür mag es verschiedene Gründe geben: Toleranz, Geduld, Mitleid, Verständnis, Sympathie. Ich hatte einen Freund, bei ihm—glaube ich—war es Liebe, die mich erträglicher—oder sogar erträglich—machten.
„Alexander war einige Jahre älter als ich. Wir lernten uns während einer Gala meines Vaters kennen. Alex war der Sohn einer Vorsitzenden eines Partnerunternehmens. Ich hatte ihm verabscheut, gehasst. Ich war erst fünf Jahre alt gewesen und hatte bis auf Vicky niemanden in meinem Alter gekannt. Alex sprach über seine Freunde aus der Privatschule. Ich war neidisch. Unser erstes Treffen endete auch damit, dass ich einfach vom Tisch gegangen bin. Man hat früh bei mir festgestellt, dass ich anders bin und schenkte dem Vorfall nicht mehr Beachtung als sonst.
„Es vergingen einige Jahre. Ich wurde trotz heftigen Argumentieren meinerseits zuhause geschult. Vicky verlor die Lust mit mir zu spielen und sie selbst fand Freunde während der zahlreichen Veranstaltungen, die sie besuchte; ich aber hörte auf ihnen beizuwohnen. Für einige Zeit glaubten die Kollegen meines Vaters sogar, ich wäre von dieser Welt gegangen.
„Eines Tages brachte Vicky eine ihrer Freundinnen zu uns für eine Woche. Es stellte sich heraus, dass Vickys Freundin, Kera genannt, die Schwester von Alexander war; auch er kam zu Besuch. Er blieb mit den Mädchen, welche überwiegend im und am Pferdestall zu finden waren. Ich war hingegen in meinem Musikzimmer und übte. Meine Mutter hatte große Hoffnungen in meinem Talent, als sie entdeckten, dass ich ein perfektes Gehör habe.“ Herr Euler nahm ein Schluck Wasser. Ich blickte über die Teiche auf den Wald am Horizont. Die Blätter waren golden. „Ich sah Vicky und die Geschwister Rosenkranz nur während dem Mittagessen“, führte Victor fort. „Kera blickte immer etwas verstört auf mich, aber Alex hatte in seinen Augen eine gewisse Neugier für mich gefunden. Er erkannte mich wieder, sagte er. Kera, Alex und ihre Familie wurden das Jahr zu unserem Weihnachtsfest eingeladen. Es war an diesem Tag, an dem ich Glück geschenkt gekriegt hatte. Ich spielte einige Weihnachtslieder auf dem Klavier und Vicky und Kera sangen dazu. Ihr Gesang wurde respektvoll gelobt, aber mein Spielen verherrlicht. Die Rosenkranz hatten vergeblich versucht einem ihrer Kinder die Lust ans musizieren zu unterjubeln. Alex hatte zwar keinen Spaß Musik selber zu machen, war aber hellauf begeistert vom Klavier selbst. Er fragte, ob ich andere Stücke spielen konnte und ich spielte ihm mein ganzes Repertoire vor—was damals nicht allzu groß war. Bei allen folgenden Besuchen der Rosenkranz war Alexander dabei und hörte mir bei Spielen zu.
„Wir waren Teenager als ich das erste Mal ein eigenes Stück komponiert habe. Alex saß wie üblich bei mir im Musikzimmer und redete über Vickys neuen, blöden Freunde—er liebte sie, hatte es aber niemals zugegeben, nicht einmal mir. Ich spielte, während er redete. Ich dachte zuerst, es wäre etwas aus meinem Gedächtnis. Es war erst als Alex fragte, von welchem Komponist das Stück stammte, dass ich merkte: Ich hatte improvisiert. Ich sollte es doch nochmal spielen, sagte er. Aber ich wusste nicht einmal wie es anfing. Meine Finger glitten über die Tastatur, spielten diesmal jedoch gänzlich aus dem Gedächtnis. Darauf erhielt ich zum Namenstag von der Familie Rosenkranz ein neues Aufnahmestudio. Wir nahmen jede Übungsstunde auf und auch wenn ich alleine spielte. Mir fiel auf, dass ich nur bei Gesprächen mit Alexander improvisierte. Die Tage, an denen er nicht da war, habe ich die Aufnahmen seiner Stimme angehört. Wieder und wieder hörte ich sie mir an.
„Alexander wurde 20 und sollte in die Fußstapften seines Vaters treten. Wir sahen uns—zu meinem Bedauern—nur noch selten. Kera und Vicky waren seit Jahren nicht mehr befreundet. Die Rosenkranz kamen jedoch immer zu meinem Geburtstag. Ich nahm jedes Wort auf, dass Alex mit mir teilte. Ich hörte die Aufnahmen seiner einen Stimme und vernahm Musik.“ Herr Euler nahm einen weiteren Schluck. Die Fontänen schossen heute kein Wasser aus. „Nun verstehen Sie, Anthon, weshalb ich auf diese Weise komponiere. Soviel hatte ich den 16 Gesprächspartnern vor Ihnen auch erzählt. Ich vertraue Ihnen aber zusätzlich an, warum ich nicht mehr selber spielen kann.
„Der Tod unserer Eltern vor 10 Jahren hat uns alle schwer getroffen. Vicky übernahm das Unternehmen und kam nur noch selten, um mich zu sehen. Sie hat ihre eigene, wundervolle Familie, um die sie sich kümmern muss. Auf der Beerdigung habe ich seit langem wieder Alexander zu sehen gekriegt. Er war vierfacher Vater in der zweiten Ehe. Wir hatten öfters telefoniert und er informierte mich über vieles in seinem Leben und das seiner Kinder. Eine wichtige Sache verschwieg er mir jedoch: Er war krank. Bereits vier Jahre hatte er mit dem Krebs gerungen und es brauchten vier mehr um ihn niederzureißen. Ich war am Boden zerstört, als ich davon hörte. Alexander, mein einziger und bester Freund, war nicht mehr. Ich war wütend; wütend auf den Tod, dass er einen solch fabelhaften Menschen von mir nahm. Wieder einmal. Vicky versuchte ihr Bestes mich zu trösten, doch sie vermochte es nicht, noch vermochte es Zeit. Ich nahm ein Bad in der Kugel und beobachtete die Fische. Sie waren so sorgenfrei, schwammen sie in ihrem Aquarium und wurden regelmäßig gefüttert. Sie hatten keinen Grund für Trauer. Das taten sie auch nicht. als ich hochblickte, sah ich einen toten Fasch an der Oberfläche schwimmen. Es löste etwas Furchtbares in mir aus. All mein Zorn, all meine Liebe quellte aus mir heraus. Ich weinte und schlug auf das Glas des Aquariums. Ich schlug und schlug und schlug. Ich wollte es bricht! Meine Finger brachen vorher.“ Victor drehte seine Hände und zeigte mir seine vernarbte Handfläche. „Beinahe zwei Jahre hat es gedauert, bis ich wieder selber schreiben konnte. Gut, dass ich Stephan habe, der meine Anweisungen perfekt umsetzte. Der Tod nahm mir mein Glück, aber ich mir meine Hände. Was denken Sie, Anthon? Werde ich ihn mit dem Tod wiedersehen?“ Victor nahm den Stift und setzte an.