Auf der Suche nach meinem Herzen

Er schaute in den Spiegel und erinnerte sich an die Worte, die er vor 10 Jahren zum Himmel sprach: „Meine liebste Serza, ich fühle mich so müde, so müde, dass ich beim nächsten Schlaf nicht mehr wieder aufstehen möchte. Ich glaube, ich habe letzten Endes doch verstanden wie du dich fühlst.“ Er strich sich über seinen Adamsapfel, wo damals das Seil eng auflag. Seine Finger glitten seinen frei rasierten Hals herab zu seiner Brust. Seit 10 Jahren war dort ein Loch, wo sein Herz gewesen war. Er sah das Weiß seiner Rippenknochen und Teile seiner Lungen; die roten Organe bewegten sich mit seinem Atem, aber sie verließen nie die magische Barriere des Lochs.

Der Fremde hatte ihm sein Herz genommen und mit einer langsam tötenden Hoffnung ersetzt: seit 10 Jahren irrt der Herzlose nun durch die Welt auf der Suche nach seiner Serza. Der Fremde hatte es ihm geschworen, nachdem er ihm ein zweites Mal den Suizid verdarb. „Deine Serza ist wieder am Leben“, schwur der Fremde mit einem furchteinflößendem Grinsen, „du musst nur suchen.“ Er sah den Fremden nicht mehr. Es war besser so.


10 Jahre waren eine lange Zeit. Wenn sie seither am Leben war, suchte auch sie ihn? Hatte sie sich bereits in jemand anderes verliebt? War sie überhaupt noch am Leben? Er glaubte: ja. Wenn Zweifel ihn überrennen möchte, legte er seine Finger auf seine Halsschlagader und fühlte, wie sein Puls schlug. Sein Herz war noch irgendwo da draußen. Und es schlug. Doch wie ein Giftpilz stieg der Zweifel bei jedem Hoffnungsschimmer herauf: der Fremde hatte nicht sein Herz in seine Serza eingepflanzt, denn sonst würde sein Puls zufällig manchmal ansteigen, wenn Serza sich anstrengte. Der Fremde hatte sein Herz einfach nur entnommen als einen Preis, als Gegenwert zu Serzas Leben. Vielleicht war er auch nur ein böser Dieb und Serza war seit über 10 Jahren tot geblieben. Nein! Er weigerte sich, das zu glauben. Der Fremde konnte nicht so böswillig sein, ihm ein zweites Mal zu erscheinen, nur um sein Leiden zu verlängern.


Der Herzlose hatte den halben Kontinent abgesucht. Niemals hatte jemand die Frau in seinem Foto gesehen. Seine Familie und Freunde waren ratlos. „Serza ist tot“, sagten sie ihm, „du musst das akzeptieren.“ Wie konnte er es? Er zeigte ihnen das Loch in seiner Brust, doch sie sahen nichts. Er wollte hineingreifen, doch die Barriere hielt ihn davon ab. Selbst auf alten Fotos vom Urlaub war ein Loch in seiner Brust. In seiner Praxis hatte er heimlich ein Ultraschallbild von seinem Herzen gemacht, doch bis auf ihm sahen alle ein gewöhnliches Herz zwischen den Lungen.


Die ersten 5 Jahre suchte er die Orte ab, die eine Verbindung zu Serza hatten. Zuerst schaute er an den Orten, die er gemeinsam mit ihr besichtigt hatte. Danach besuchte er die Orte, von Serzas Leben vor ihm. Er besuchte die Orte aus dem Fotoalbum, den sein Schwiegermutter Serza geschenkt hatte. Es war voll mit Bildern aus ihrer Kindheit bis zum Tag ihrer Hochzeit.

Er verfolgte Serzas Leben: die Stadt, in der sie als Kind aufgewachsen war; dann die Stadt, in der sie studiert hatte; letztlich die zwei Kleinstädte, wo sie vor ihrem Kennenlernen gearbeitet hatte. Er flog zu den dutzenden Urlaubszielen, die Serza besichtigt hatte. Nirgends war er erfolgreich. Er heuerte Detektive an, weil er selber nicht mehr weiter wusste. Sie fanden nur heraus, dass Serza tot war. Er weigerte dieses Ergebnis als Wahrheit anzuerkennen; er bat für weitere Recherchen mit der Begründung, dass sie nicht tot wäre. Sie lehnten alle ab. Er wendete sich an einen alten Freund, der Journalist war. Dieser half dem Herzlosen, indem er das Portrait von Serza in den öffentlichen Medien teilen ließ. Niemand hatte sie gesehen, zumindest nicht mehr seit sie gestorben war.


Er gab seine Arbeit als Hausarzt auf und wanderte die letzten 5 Jahre durch etliche Städte und Dörfer. Er lebte mit der Hand im Mund, Hoffnung in der Brust. Er lief von Küste zu Küste, von einem Berg zum anderen, doch seine Serza war auf dieser kleinen Welt nicht zu finden.


Er schaute in die Reflektion seiner selbst im Spiegel und erinnerte sich an die Worte, die er vor 15 Jahren zu ihr sprach: „Meine liebste Serza, schöner als der wahre Nachthimmel, reiner als die tiefsten Wasser, kühner als ein Sprung hinein. Du bringst mich zum Lachen, zum Lächeln und zum Hecheln. Serza, möchtest du meine Frau sein?“ Er strich sich über seinen Hals, über das Loch in seiner Brust. Wie würde Serza diesen Mann im Spiegel wiedererkennen? Er selber vermochte es nicht. Er hatte nun langes Haar, einen zotteligen Bart und trug zerrissene, stinkende Kleidungsfetzen an seinem dürren Leib. Er wollte sich zu diesem Jubiläumstag restaurieren, präsentierbar gestalten. Er kehrte zu seinem Familienhaus zurück. Voller Tränen wurde er herzlichst aufgenommen. Er wusch sich, zog seine alten Klamotten aus seiner Studienzeit an, die seine Mutter aufgehoben hatte, und rasierte sich den Bart und die Haare kurz. Ob Serza ihren Ehemann jetzt wiedererkennen würde? Seine Familie tat es. Jedoch verschwand der Herzlose so schnell wie er kam. Er vermochte auch nicht länger bleiben. Er schämte sich. Er schämte sich für sie, dass sie seiner Hoffnung nicht glaubten. Er konnte es durch ihre Freude ansehen.


Er ging auf das Feld, zum Baum, unter dem sie seinen Heiratsantrag annahm. Welche Ironie ihn an diesen Ort gezogen hatte: hier hatte er sich zu seinem fünfjährigen Hochzeitstag erhängen wollen, vor 10 Jahren wurde ihm sein Herz entnommen; er dachte bereits davor, dass er es mit seiner Serza gemeinsam verloren hatte. Er hatte sich damals in dieser Sache geirrt, doch hatte er sich auch mit Serzas weiterleben geirrt? Er sackte hinab und lehnte sich an den Baumstamm. Es war ein wolkenfreier Himmel. Die Sonne schimmerte durch die Öffnungen zwischen den Blättern. Er nahm Serzas Portrait aus seiner Tasche und strich darüber. „Ich liebe dich“, sagte er. Plötzlich wehte ein starker Wind und riss das Bild aus seiner Hand. Er schnappte hinterher, doch das Bild flog weg. Er sah in der Ferne einen Drachen aufsteigen. Seine Augen folgten dem Drachen, wie es gegen den Wind emporflog, dann folgte sein Blick dem Band hinunter. Ein kleines Mädchen lief durch das Feld, ihre Eltern schauten freudig auf ihr spielendes Kind. Der Herzlose lief zu ihnen. „Serza?!“ flüsterte er zu sich selbst. Er stellte sich zu ihnen und beobachtete das lachende Mädchen.

„Sie ist heute zehn geworden“, sagte die Mutter lächelnd. Der Wind ließ ab und der Drache knallte zu Boden. Das Mädchen sammelte es ein und ging zu ihrem Vater. Sie blickte hoch auf den Herzlosen. Ihr unschuldiges Lächeln wärmte ihn von innen heraus. Er griff an seine Brust.
„Ich bin Hope.“