Leseprobe:
Ragnarök - Der letzte Einherjer

Ein neuer Freund


 Thor spaltete dem letzten fliehenden Joten den Schädel. Seit drei Jahren durfte er nun alleine durch die Welten reisen. Sein Vater Odin empfand, dass ein Junge abenteuerlustig sei und er wusste von Thor, dass ihm nichts zustoßen würde. Thors Stärke war bereits als kleines Kind gleichzusetzen mit der von seinem Vater.

Das Blut aus den Leichen des Ehepaares färbte den Schnee um sie rot. Jotunheim war ein kalter, trostloser Ort, indem der Winter nie aufzuhören schien; nur selten verirrten sich wärmende Strahlen, wenn Sol ihr brennendes Gespann vorbeizog. Deshalb blieb Thor an der Grenze zwischen Jotunheim und Midgard, damit die Asengeschwister, die Sonne und Mond über den Himmel zogen, ein Auge auf ihn werfen konnten.

Thor wischte seine Axt an den Leibfetzen eines der Toten sauber, als er einen Jungen aus einer Höhle kommen sah. Der Junge hatte schwarzes Haar und trug einen weißen Bärenpelz um seine Schultern. Seine Augen glühten rot. Thor schmiss seine Axt nach ihm, aber der Junge rollte frühzeitig zur Seite. Blitzschnell zog Thor eine weitere Axt von seiner Hüfte und warf es auf jenen. Abermals wich der Junge im Eisbärenpelz aus und rannte auf Thor zu. Odins Sohn nahm naheliegende Steine und warf sie nach ihm. Nach drei misslungenen Würfen war der Junge in Armreichweite, seine Augen brannten rot wie die Glut eines Holzblocks, kurz bevor es erlosch. „Hab dich!“ sagte der Junge, als er Thor am Arm antippte. Danach rannte er wieder von Thor weg, doch hielt ihn im Auge, sodass der Ase ihn nicht sogleich fing. Thor lachte, warf den Stein in der Hand zu Boden und rannte dem Jungen hinterher. Thors orange Haare wehten mit dem kalten Wind.

Thor und Loki spielten immer zusammen, wenn Thor wieder in Jotunheim war. Wegen seiner Stärke hatte Thor von seinem Vater die Aufgabe erhalten, Midgard, das Reich der Tiere, von den Wanderern des Eis zu schützen—Thors Vater sagte, dass jeder sein Reich erhalten hatte, damit es zu keinen Streitigkeiten komme; leider jedoch gäbe es immer welche, die sich nicht an die Regeln hielten. „Du, Loki: Willst du mich mal in Thorheim besuchen kommen? Da ist es nicht so kalt und ich kann dir meine Sammlungen zeigen. Ich habe sehr schöne Schwerter zum Namenstag geschenkt gekriegt. Dann können wir mal richtig gegeneinander kämpfen.“

„Hihihoh“, lachte Loki, doch dann sank sein Kopf. „Aber ich bin ein Jote…“

„Das macht nichts. Mein Vater hat einen guten Freund namens Mimir mal nach Asgard eingeladen, der auch ein Jote ist. Ich bin sicher, Vater wird nichts dagegen haben, wenn du kommst.“ Die roten Augen des Jungen strahlten und er fragte seinen Freund, wie er denn nach Thorheim komme. „Also erst gehst du in Richtung Midgard; du läufst dahin, wo Sol Midgard verlässt“, Thor zeigte mit seiner Hand nach Westen. „Dann hältst du Ausschau nach einem Baum im Felde, dessen Früchte keine Vögel anlocken. Dieser Baum hat ein Loch und blickst du dort hindurch, kannst du Bifröst sehen. Es ist die bunte Brücke im Himmel, die von Midgard nach Asgard führt. Bist du erstmal dort, wird Heimdall dir zeigen, wie du zu mir nach Hause kommst.“

„Gut. Ich komme dann in fünf Tagen, ja?“

Thor nickte und sie warfen sich wieder mit Schneebällen ab.


 Loki fand Bifröst dank Thors Beschreibung problemlos. Pfeifend hüpfte er über die Regenbogenbrücke und blickte durch das bunte Glas: Unter ihm war Midgard und weit im Osten sah er sein Zuhause, wo er damals Thor getroffen hatte. Es schien ihm alles so winzig von dort oben. Das Tor zum Reich der Asen war eine Festung. Es war der Palast von Heimdall und er entschied, wer sein Haus betreten und hindurch nach Asgard schreiten durfte. Der kleine Junge im weißen Bärenpelz blickte hoch auf die gigantischen Eingangstore. Er hob seine Faust, um daran anzuklopfen, doch die Tore knarrten vorher auf. Heimdall erwartete ihn bereits, er erspähte ihn schon über Bifröst kommen. Der Wächter hielt einen Speer in seiner rechten Hand und sein rechtes Auge drehte ständig umher, ständig wachend. Dann fixierten beide braunen Augen auf Loki und er fühlte sich unwohl. „Thor hatte mir schon gesagt, dass ein Wanenjunge kommen würde. Thorheim liegt ganz im Westen. Geh durch die Eingangshalle durch und du gelangst nach draußen. Lauf geradeaus und du gelangst nach Idafeld. Dort steht Odins Palast Gladsheim, du biegst aber zuvor links ab und gehst den Pfad entlang bis du einen Palast siehst, der noch im Bau steht. Thor wollte dort auf dich warten.“

Loki bedankte sich und ging durch die Eingangshalle. Am anderen Ende öffneten zwei riesige Asen die Tore und ein wärmendes Licht empfing ihn. Asgard eröffnete sich vor ihm. Saftig grün war das Gras, wolkenlos der Himmel. Selbst das Atmen schien ihn mehr mit Luft zu füllen. Am Horizont blitzte etwas Goldenes: Es müsste Gladsheim sein. Loki folgte dem Funkeln. Je näher er dem Gold kam, desto mehr sah er von Asgard. Imposante Häuser und prunkvolle Gärten tummelten sich über den ganzen Horizont. Eins war schöner als das andere, glänzender als die Regenbogenbrücke Bifröst, die er hierher überquerte. Er lief am ersten Palast vorbei, der ihn den Weg mit seinem blitzenden Dach zeigte, rüber zu einem riesigen Platz. Der Boden dort war bemalt und zeigte die Geschichte Odins und seiner Brüder Ve und Vili, wie sie Midgard aus dem Körper des Urvater der Joten, Ymir, geschaffen haben; Ve und Vili rissen ihm die Augen raus, während Odin ihn festhielt. Loki kannte die Geschichte, denn auch unter den Joten zollte man den Asen Respekt, wenn nicht unbedingt Wohlgefallen, aber er hatte sich Ymir immer größer vorgestellt.


 Nach einem langen Marsch sah er den Palast im Bau und hielt Ausschau nach seinem Freund. In der Ferne sah er eine orange Fahne vom Haupt eines Jungen wehen und winkte ihm zu. Dieser begrüßte ihn mit einem Wurf eines Steins, dem er wie gewohnt auswich. Thor rannte zu ihm und wirbelte hinter sich eine riesige Staubwolke, sodass sich die Arbeiter am Palastbau vehement beschwerten. Thor berührte Loki an der Schulter, sagte „Du bist“ und rannte blitzschnell davon.

Nach einigen Stunden des Spielens kam Odin mit Heimdall an seiner Seite. Sie sahen wie Thor und der Junge mit Schwertern und Schilden gegeneinander kämpften. „HALT!“ hallte der tiefe Bass Odins durch Asgard. Thor ließ gehorsam sofort mit dem Kämpfen ab, Loki sah aber darin seine Chance und schlug Thors Schwert aus seiner Hand. Als er für den letzten Schlag ausholen wollte, griff Odin ihn am rechten Arm und drückte so fest, dass er die Waffe fallenließ. Blut floss aus der Stelle, wo die Fingernägel eindrückten. Loki blickte hoch auf den blondbärtigen Mann mit den blauen Augen. Lokis Knie zitterten. Es war das erste Mal, dass er Angst um sein Leben verspürte. „Ein Jote…Was hast du dir dabei gedacht, Thor?“

„Er ist mein Freund, Vater!“

Odin ließ Loki los und sprach gutmütig: „Wir können keine weiteren Joten hier aufnehmen.“

„Und dennoch stehst du hier! Und er auch!“ erwiderte Loki und zeigte auf Heimdall.

Heimdall hob seinen Speer, doch Odin lachte und wies dem Wächter, sich zurückzuhalten. Odin ballte seine rechte Faust, bis seine Nägel in seine eigene Handfläche schnitten und Blut herausfloss. Er packte mit der blutigen Hand die Wunde an Lokis Arm. Der Junge blickte in die blauen Augen Odins und bemerkte, wie sich dessen rechtes Auge von blau nach rot färbte. „Loki“, sagte Thor und zeigte auf Lokis rechte Auge, „Dein Auge ist blau.“

Odin ließ ihn los. Loki kniete sich vor das liegende Schwert und betrachtete sein Spiegelbild in der polierten Klinge. Er hatte nun ein blaues und ein rotes Auge. „Du hast nun Asenblut in dir“, erklärte Odin. „Du hast mein Blut in dir. Du darfst jetzt hier bleiben und keiner wird dir mein Gastrecht nehmen. Komm, Heimdall. Lass die Jungs weiterspielen.“ Odin kehrte ihnen den Rücken und ging zurück nach Gladsheim. Heimdall blickte skeptisch auf den Jungen, der Odin mit weiterem Jotenblut verschmutzt hatte, bevor auch er zurück zu seinem Wachposten in Himinbjörg ging. Wieder hatte der Allvater diese Joten aufgenommen. Zuvor hatte Odin dasselbe Blutmischen mit Mimir ausgeführt. Odin war willkommen zu den Joten, da seine Mutter Bestla selbst eine Jotin war. Auch sein Sohn Thor hatte eine Jotin zur Mutter, genannt Jörd. Heimdall mistraute der hinterhältigen Art der Joten, da er sie besser verstand als alle anderen—der Ase war selbst erschaffen worden von neun Jotinnen, neun Hexen; geschaffen worden, um ihnen als Wächter zu dienen.


 Am Abend sammelten sich alle Asen und feierten die Aufnahme Lokis in ihre Reihen. Der Junge gefiel vielen dank seiner witzigen und verspielten Art, dem ständigen spielen von Streichen und erzählen von Witzen. Bevor der Met, welcher aus der Ziege Heidruns Euter gemolken wurde, ausgeschenkt wurde, brachte die Asin mit dem erdgleichem Haar jedem eine Himbeere und legte sie auf die Teller. „Nur eine Beere?“ fragte Loki seinen Freund Thor verwundert.

„Haha, natürlich nicht. Das richtige Festmahl kommt gleich. Idun sammelt Früchte und Nüsse über ganz Asgard, die uns Lebensenergie spenden. Deshalb sieht mein Vater immer noch so jung aus, obwohl er schon hunderte Jahre alt ist.“ Loki schaute auf den bärtigen Mann, den sie Allvater nannten. Ein rotes und ein blaues Auge…so wie er es nun hatte.
 

Der Krieg der Götter


 Einige Asen sahen Odins Blutmischen mit den Joten als Zeichen der Schwäche. Sie waren nicht alleine in dieser Ansicht. Das andere Göttergeschlecht, die Wanen, nahmen die Gelegenheit wahr und bereiteten sich auf einen Konflikt gegen die Asen vor. Sie schickten die wunderschöne Freya, um die Asen zu korrumpieren. Die Wanin nutzte Seidr, eine mysteriöse Magie, um Unmengen an Gold zu kreieren und die Asen goldgierig zu machen. Sie becircte den Allvater mit ihrer Schönheit und ihrem Charme und zog ihn in ihren Bann. Er vernachlässigte seine Beziehung zu Jörd, um mit der Wanin Tag und Nacht zu verbringen.

Freya unterschätzte jedoch wie schwer Gier den Verstand der Götter einnehmen würde. Die Asen verlangten mehr und mehr Gold und als Freya ihre Gier nicht befriedigen wollte—und konnte, da es nur ein Zauber war—, drohten sie mit ihrem Leben und verbrannten sie letztlich.

Vergeblich.

Sie stand aus der Asche des Pfahls auf, an den sie gebunden war. Dreimal stand sie im Feuer und dreimal lebte sie erneut, bevor sie flüchten, ihren Falkenmantel anziehen und nach Wanenheim fliehen konnte.

Darauf sammelten die Asen sich zu einem Rat und beschlossen das weitere Vorgehen gegen die Wanen. Die eine Hälfte der Asen bestanden auf die Versprechungen Freyas: Sie wollten Gold; so viel Gold, dass sie ihre Häuser damit einkleiden konnten; sie stimmte somit für eine Plünderung Wanenheims. Die andere Hälfte besann sich ihrer Vernunft: Die Wanen wären von ebenbürtiger Stärke und ein Kampf gegen sie würde niemals enden. Odin war sich ebenfalls unschlüssig und suchte den Rat bei seinem Freund Mimir. Er ging von einem Ast Yggdrasils zu dessen Stamm und rutschte hinunter zu Mimirs Brunnen. Das Wasser darin sollte einem mit Weisheit überströmen, weshalb Mimir, der täglich daraus trank, so Weise war. Als er dort ankam, sah er den Joten mit einem schwarzen Horn Wasser aus dem Brunneneimer schöpfen. Der Brunnen sah gewöhnlich aus, der Ring errichtet aus Steinbrocken. „Mimir“, sprach Odin, „ich benötige deinen Rat. Die Asen sind zwiegespalten: Einige sehnen sich nach einer Plünderung Wanenheims, die anderen wollen den Frieden beibehalten.“

„Und du suchst nun die richtige Entscheidung, Odin?“ sagte Mimir in seiner ruhigen Stimme, golden blitzten seine Zähne. Er stoß den Eimer am Brunnenrand hinunter. Eine Weile verging, aber nie hallte der Aufprall auf das Wasser aus dem Brunnen heraus. Mimir hielt Odin davon ab, in den Brunnen zu blicken. Der Jote strich mit einer Hand über seinen langen Bart, die andere legte er an das enorme Horn an seiner Hüfte auf. „Ich bin keine Norne, mein Freund. Ich vermag es nicht zu sagen, welche Entscheidung den Asen besser kommt. In der Tat: Die Entscheidung mag schon längst gefallen sein. Nur weil wir nicht hören wie das Wasser platscht, heißt nicht, dass der Eimer nicht bereits hinuntergeworfen wurde. Es bedeutet lediglich, dass der Brunnen tief ist, dass es dauert, bevor wir die Folgen meines hinunterschubsen des Eimers erkennen können.“

„Oder der Brunnen ist leer“, entgegnete Odin.

„Was würdest du für die Wahrheit opfern?“ grinste Mimir hinab auf den Gott—der Jote war ein Kopf größer als der Ase.

Odin zögerte und gewichtete seine Antwort überlegt: „Mein Auge.“

„Nur eines? Nun gut, deine Entscheidung…Welches wird es sein?“ Sein Grinsen verlies Mimirs Mund, als er Odin ein Messer in die Hand legte. Odin drückte die Klinge an sein blaues Auge, dann entschied er sich jedoch, dass rechte, rote Auge zu entfernen. Blutverschmiert legte er die sehende Kugel in Mimirs Hand. Dieser schmiss das Auge in den Brunnen.

Der Eimer platschte auf Wasser auf. „Nur zu, mein Freund. Zieh es hoch und ergötze dich an der Erleuchtung“, sprach Mimir sanft und trat beiseite. Odin schaute hinein und der Eimer schwamm an der Oberfläche, die er problemlos ohne auszustrecken berühren konnte. Er sah sein Auge nirgends noch Spuren von Blut. Er zog den Eimer voll klarem Wasser hoch. Ein Einäugiger starrte in der verschwommenen Oberfläche auf Odin. Er tränkte seine Hände hinein und das Wasser mischte sich mit dem Blut an seinen Händen und färbte sich zinnoberrot. Er schöpfte und trank einen Schluck. Er merkte nichts Außergewöhnliches. Er leerte den Eimer bis zum Boden, doch nichts geschah. Er warf den Eimer wieder hinab in den Brunnen und er platschte beinahe umgehend auf. Abermals zog er ihn hinauf und leerte ihn.

Nichts.

„Was soll das, Mimir? Ich habe mein Auge geopfert!“

„Du hast das Auge eines Joten geopfert, nicht deins. Du hattest dich falsch entschieden.“ Odin hob voll Zorn seinen Speer Gungnir und stieß die Spitze gegen Mimirs Brust, doch stoppte, bevor er ihn berührte. Er verstand nun. Er verstand nun Mimirs Worte: Die Entscheidung war schon längst gefallen. Er kehrte dem Joten den Rücken und ging zum Stamm des Weltenbaums. „Endlich hat das Wasser dich erleuchtet“, rief Mimir ihm hinterher, während er mit dem Eimer aus dem Brunnen schöpfte.

Odin kletterte zurück nach Asgard und wurde von seinem Sohn Thor und Loki begrüßt, die eifrig auf seine Ankunft gewartet hatten. „Was wirst du nun tun, Vater?“ fragte der kleine Thor—Jahrzehnte vergingen, bevor Asen sichtbar älter wurden; Loki befiel dasselbe Schicksal, seit Odin ihm sein Blut schenkte.

Odin lief wortlos an ihnen vorbei und zum Strand im Osten, von dem Wanenheim zu erblicken war. Er hob Gungnir und schmiss den Speer hinüber, der einen Wanen aufspießte und umgehend tötete. „ODIN IST GOTT ALLER GÖTTER“ schrie Odin. Der erste Krieg zwischen Wanen und Asen begann.


 Der Krieg war erschöpfend für beide Seiten ohne einen klaren Sieger hervorzuheben. Die Verluste trafen Odin besonders: Er verlor seine Brüder Vili und Ve, und Jord, die Mutter Thors. Die Asen und Wanen besannen sich nach einer Waffenruhe, einem Frieden. Beide Seiten gaben der anderen Geiseln, um den Waffenstillstand zu gewähren. Die Wanen übergaben ihren König Njörd und seine zwei Kinder Frey und Freya, die an Odin vermählt wurde; man erhoffte sich einen währenden Frieden von ihrer Ehe. Die Asen gaben als Zeichen der Versöhnung Odins Speer, Gungnir, und zwei entbehrliche Geiseln: Hönir, einem hübschen Schwätzer, und Mimir, dem Odin seine Opferung des Auges nicht verziehen hatte.

Die Wanen achteten Mimir nicht, da er zum Stamm der Joten angehörte. Hönir hingegen erwies sich als hervorragender Berater. Sie ahnten jedoch nicht, dass er nur die Worte Mimirs nachsprach wie ein Schwätzer es nun mal tat.

Ein Jahr verging in Frieden. Die Wanen in Asgard lebten friedlich mit den Asen. Freya gebar Odin einen Sohn, den sie auf den Krieg anspielend Hermod nannten—Die Rage des Krieges. Er würde seinem Vater in Statur und Gesicht so ähneln, dass man ihn manchmal für den kleinen Odin hielt.

Derweil in Wanenheim missfiel der Rat Hönirs den Göttern dort stets mehr. Er antwortete ihnen auf ihre Nachfragen letztlich stets ehrlich mit: „Fragt jemand anderes.“ Sie wurden zornig, dass die Asen sie getäuscht und für das mächtige Haus des Njörds solch lausige Geiseln erhalten hätten. Sie behielten den Asen Hönir am Leben, um ihn eventuell gegen Frey auszutauschen, und köpften stattdessen Mimir. An Gungnir gebunden schmissen sie seinen Kopf nach Asgard, wie es Odin damals zum Start des ersten Krieges tat. Odin wusste von Freya, dass sie ihren Körper bei den Verbrennungen durch Seidr verwandelt hatte und bat sie nun, Mimirs Körper wiederherzustellen. Sie hatte es oft versucht, doch schaffte es nicht. Ihr gelang es nur dem kahlen Kopf, der mit Gungnir nach Asgard kam, Leben einzuhauchen. „Du Narr“, schimpfte Mimir Odin an, „Hönir, der Schwätzer, hat nun den zweiten Krieg ausgelöst.“

„Dann hab ich alles, was ich wollte“, grinste der Einäugige.

Der zweite Götterkrieg war eher vorbei als es beim ersten der Fall war. Mit dem Fehlen der Familie Njörds waren die Wanen schwächer als die Asen. Sie einigten sich bald auf einen endgültigen Frieden. Keine Geiseln wurden diesmal ausgetauscht. Stattdessen brachte Idun den Anführern und Mächtigsten der beiden Götterrassen ihre gesammelten Beeren. Die zerkauten Früchte wurden dann in einen Kelch gespuckt. Saga füllte den goldenen Behälter mit Wasser aus ihrem Bach in Sökkwabeck, dann rührte Freya die Lösung unter Einwirkung von Seidr. Das Kind einer Asenmutter und eines Wanenvaters wurde auserkoren, den Kelch auszutrinken und als Botschafter zwischen den beiden Göttergeschlechtern zu dienen. Die magische Kraft, die in den Zutaten innewohnte, brachte eine unerreichte Intelligenz im ausgewählten Jungen. Ehrlich und ergiebig konsultierte Kvasir sowohl Asen als auch Wanen mit seinem vermögenden Wissen und seiner geschickten Zunge. So endete der Krieg der Götter und dank Kvasir hielt ihr Frieden.
 

Die Prophezeiung


 Odin, der sich ständig nach mehr Wissen und sogleich Macht sehnte, seit er von Mimirs Brunnen getrunken hatte, ging zu den Nornen, weissagende Frauen, die—ähnlich wie Mimir—an einem Brunnen lebten, dieser jedoch bei den Wurzeln Yggdrasils stand. Odin hoffte, dass ihre Quelle ihn mit Weisheit erfüllen würde ohne ein Opfer von ihm. Je tiefer er den Stamm hinunterkletterte, desto mehr fühlte er seine Kraft nachlassen, seine Wärme schwinden. Die Welt, auf denen die Wurzeln Yggdrasils verankert waren, war genannt Niflheim. Es war ein kalter, trostloser Ort. Die Dimensionen waren schier endlos und niemand, der Niflheims Enden erkunden wollte, war jemals zurückgekehrt. An einem der riesigen herauswirbelten Wurzeln brannte ein Feuer. Odin hörte die Stimme von paar Frauen, eine sprach gellend. Er näherte sich dem Feuer, seine Hand auf der Wurzel aufliegend. Als seine Hand die Wurzel berührte, fühlte er wieder seine Kraft zurückkehren, und als er Yggdrasil losließ, verschwand sie sogleich. Er lief weiter und strich mit seiner Hand über die Wurzel. Er fühlte verschiedene Gravuren darin, eingeschnitzt, nicht natürlich. Die Stimmen der Frauen wurden leiser, je näher er dem Feuer kam, bis sie gänzlich verstummten. Ein kleines Mädchen kam Odin entgegen und blieb ihn begutachtend vor ihm stehen. Ihr blondes Haar war geflochten in zwei Zöpfen, die vor ihren Schultern herabfielen. Sie neigte ihren Kopf und sagte: „Hallo, Odin. Komm, du bist spät dran—wenn es nach Skuld geht.“ Sie nahm ihn bei der Hand und hopste zum Feuer. Eine schwangere Frau stand am Feuer, blickte auf das Holz in ihren Händen, bevor sie es den Flammen fütterte. Ihr braunes Haar fiel flach hinter ihre Schultern; ihr Gesicht glänzte schön im Licht des brennenden Holzes. Eine alte Frau stand daneben und webte an einem Teppich. Ihr Haar war weiß und kurz, dünn und zerbrechlich wie die Frau selbst.

„Urd ist zurück“, sagte die schwangere Frau zur Alten.

„WAS?“ schrie die halbtaube Greisin.

„URD IST ZURÜCK!“ kreischte die Schwangere zurück.

„Endlich!“ erwiderte die alte Norne Skuld. Sie drehte sich zu Verdandi und tastete sich blind zum Feuer. Die Schwangere half ihr auf einem Holzstuhl Platz zu nehmen. Skuld hob ihre Hände über dem wärmenden Feuer. „Urd, sei doch so lieb und schöpf etwas Wasser, ja?“

Das Mädchen ließ Odin los und hopste zum Brunnen, dessen Rand gerade noch von der Feuerstelle sichtbar war. „Setz dich, Ase!“ sagte Verdandi und zeigte auf einen Holzstummel am Feuer. „Du suchst nach Wissen. Oh, ich versteh die Sorgen, die das Sein bereiten“, sagte sie und strich über ihren gewölbten Bauch. „Doch beharre dich nicht auf die Worte, die du gleich vernimmst, sonst wirst du vom Morgen geblendet und fühlst nicht mehr die ungesehenen Wehen des Heute.“ Das Mädchen Urd kam zurück mit einem Krug voll Wasser. Sie schöpfte zuerst einen Schluck heraus, dann übergab sie es Verdandi. Die Schwangere trank ebenfalls, bevor sie den Krug der blinden Skuld in die Hand drückte. Diese schöpfte und verschlang wie eine verdurstende das Wasser von ihren faltigen und zittrigen Händen. „Nun du“, sagte Verdandi und reichte den Krug dem Asen. Odin tränkte seine Hände hinein und trank das Wasser darin. Er merkte nichts, so wie damals bei Mimirs Brunnen.

„Die Geburt des Lichts…“, sprach das Mädchen.

„…ist die Geburt des Schattens“, führte die Greisin fort.

„Die größte Finsternis wird kommen…“

„…wenn das größte Feuer brennt“, schloss Skuld wieder Urds Satz.

„Wie das Feuer Müspelheims und das Eis Niflheims zusammenkamen und Leben schufen, so erneut wird der Zusammenprall von Wärme und Kälte eine neue Ära gebären“, sagte die Schwangere.

„Was Freund war, wird Feind“, sagte Urd.

„Was neun ist, wird eins“, sprach Verdandi.

„Was sein wird, wird sein“, schloss Skuld ab.

Sie schwiegen. Nur das Knistern des brennenden Holzes hallte durch die Dunkelheit. Die alte Norne wurde von der Schwangeren wieder zu ihrem Webstuhl geführt, während das Mädchen spielend mit einem Zweig das brennende Holz stoß. Odin erhob sich und verließ die Nornen und die machtentziehende Kälte Niflheims.
 

Auf der Suche nach Macht


 Odin war besorgt von der Prophezeiung der Nornen. Was neun ist, wird eins. Sie mussten damit die neun Welten gemeint haben, die sich auf eins reduzieren würden. Doch welche Welt würde übrig bleiben nach der größten Finsternis? Und woher wussten sie, dass es neun Welten gab? Odin dachte stets, er wäre der Letzte, der von der unbekannten, neunten Welt wusste.

Was Freund war, wird Feind. Wem könnte er nun trauen? Am meisten bestürzte ihn der letzte Satz der Nornen. Was sein wird, wird sein. War er wirklich machtlos gegen das, was kommen würde? Nein! Das könnte nicht sein. Er war der Gott der Götter. Er war mächtiger als alle zuvor. Es müsste einen Weg geben. Er müsste sich auf alles vorbereiten, was ihm die Zukunft stellen könnte.

So begab sich Odin durch die Welten auf der Suche nach Etwas, dass ihn mächtiger machen würde. Er fand auf seinen Reisen die Runen. Es waren dieselben Gravuren, die die Nornen in Yggdrasils Wurzeln eingeschnitzt hatten. Er spürte, dass Runen eine Macht inne hielten, aber er wusste nicht wie er diese nutzen konnte. Er erinnerte sich an Mimirs Worte, als er das erste Mal nach Weisheit fragte: „Was würdest du für die Wahrheit opfern?“

So brachte Odin das größte Opfer, das ihm einfiel: Er opferte sich selbst an sich selbst. Er nahm sein Speer Gungnir und spießte sich am Stamm Yggdrasils auf. Dort hing er in der Nähe von Mimirs Brunnen, wo Mimirs Kopf regungslos lag. Nach neun Tagen des Hungers, Durstes und der Qualen landete ein Falke auf seinem Speer, Gungnir löste sich vom Stamm des Weltenbaums und Odin fiel zu Boden. Der Falke landete neben ihm und verwandelte sich in Freya, die den Speer aus dem Leib ihres Ehemannes herauszog. Sie konnte kein Seidr auf ihn wirken und behandelte seine eitertriefende Wunde mit Arzneimitteln, die sie von der Wanin Malinar gelernt hatte. Odins Frau gab ihm etwas Wasser zu trinken und er begann etwas vor sich hin zu murmeln: „Ich verstehe nun…“ Freya half ihm hoch und setzte ihn an Mimirs Brunnen ab und reinigte seine Wunde mit dem Wasser der Weisheit. Er lehnte sich an die kalten Steine und redete, halb im Wahn: „Die Macht der Runen…Die Macht der Schrift…Unsterblichkeit…“

„Ich bin gleich zurück.“ Freya zog ihr Falkengewand an und flog zurück nach Asgard. Sie schleppte Thor zum Brunnen und der kräftige Sohn trug seinen Vater zurück nach Gladsheim, in seine Schlafkammer.


 Der Allvater war tagelang im Bett und ruhte sich von seiner Wunde aus. Die Dienerinnen des Königspaares kümmerten sich um die Verpflegung des Asens. Als Freya nachschauen wollte und in die Schlafkammer ging, lag ihr Mann nicht mehr im Bett. „Hlin“, rief sie nach einer Dienerin, die umgehend zu ihr eilte. Sie war eine junge Asin, die stets ihr Haar gebündelt unter einem bunten Kopftuch trug. Trotz ihrem unterschiedlichen Götterblut diente sie der Wanin gerne. „Wo ist mein Mann? Wo ist Odin?“

„In Himinbjörg. Bei Heimdall. Odin schien es wieder gut zu gehen“, rechtfertigte Hlin ihren Nachlass in ihrer Aufsicht des Kranken.

Freya zog verärgert ihr Falkengewand an und flog hinaus zum Tor Asgards. Als sie sich Heimdalls Palast näherte, flog ihr ein Speer entgegen, dem sie gerade noch ausweichen konnte. Sie wendete ihren Blick auf den Speer und sah wie er von alleine in die Richtung zurückflog, aus dem er geworfen wurde. „PASS AUF!“ krähte Freya schimpfend. Ohne weiteren Störungen entgegenzukommen flog sie zum Palast am Ende der Regenbogenbrücke und landete auf einem der Türme, wo ihr Mann mit Heimdall, Loki und Thor stand und lachte. Sie verwandelte sich zurück in ihre Frauenform und schimpfte auf Odin ein: „WIRF DEINEN SPEER NICHT UMHER WIE EIN KLEINES KIND!“

Die Kinder waren von der bellenden Wanin eingeschüchtert, doch der Einäugige Ase lachte lediglich lauter. „Schau, Freya. Die Macht der Runen“, sagte Odin schließlich und zeigte auf die Gravuren in seinem Speer Gungnir. Die Wanin erholte sich von ihrem Wutausbruch und strich über die Runen; sie gaben eine ihr bekannte Energie von sich. „Lasst uns kurz alleine. Moment…nimm dieses Horn, Heimdall. Es gehörte eins Mimir, aber ohne Körper wird er selbst sowieso nicht mehr trinken. Ich habe es mit Runen versetzt“, sagte er und verwies auf die merkwürdigen Ritze im schwarzen Horn. „ Bläst du hinein, wird der Ton über alle Welten schallen. Doch benutz es nur, wenn Asgard in höchster Gefahr steht.“

Heimdall nahm dankend das unnatürlich große Horn an sich. „Hihihoh, wie weißt du denn, dass es wirklich über alle Welten hallt, wenn du es nicht einmal ausprobiert hast? Blas doch mal rein, Heimdall“, lachte Loki, während sie die Falltür hinabkletterten.

Als Odin mit seiner Frau alleine waren, sprach er: „Freya, meine gute Frau, unterrichte mich in Seidr.“

Sie schüttelte ihren Kopf: „Nein.“

„Ich hab dich nicht drum gebeten. Du tust es!“

Freya blickte verärgert, als könnte sie—sie könnte es wohl—Gift spucken. „Warum jetzt? Reicht dir die Kraft der Runen nicht?“

Odin löste seinen Mantel, legte ihn vor sich hin und schnitt etwas mit seinem Schwert hinein. Dann steckte er die Waffe wieder ein, drückte sich an seine Frau und warf den Mantel über sich und sie. Im nächsten Augenblick waren sie wieder in ihrer Schlafkammer in Gladsheim. „Un–…Unmöglich…“ stotterte Freya und fiel auf ihr Bett.

„Wir sind uns als Feinde begegnet, doch nun sind wir Mann und Frau. Ich bin Allvater, Gott aller Götter, und du folglich die Göttin aller. Zusammen sind wir mächtiger als alle zusammen. Ich werde dir die Runen lehren und du mir Seidr.“ Erregt von der Kraft Odins hob Freya sich vom Bett und umarmte ihn, küsste ihn, den mächtigsten aller Götter. An diesem Tag hörte sie mit der Untreue zu ihrem Mann auf. Sie stoppte ihre Fruchtbarkeit mit Seidr zu unterdrücken und sie würden schon bald ihren zweiten gemeinsamen Sohn zeugen.